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Russland aus der Sicht des abtretenden CH-Handicappers Herbert Wohlgensinger

Donnerstag, 20. November 2008 10:20

Bei einem Moskau-Besuch hat Herbert Wohlgensinger, der die Russen in die Handicapper-Kunst einführt und ihnen sein Software-Programm verkauft, interessante Erfahrungen gemacht. 

Russland - nach wie vor ein Buch mit mindestens sieben Siegeln für uns Westeuropäer, gerade was den Pferderennsport angeht. In der Schweiz hatten einst russische Vollblüter dank Miro Weiss und dem Stall Beliar für Furore gesorgt (von Shturm über Eimer, Waldai, Efir bis zur Skikjöring-Königin Volta), nun ist kürzlich der letzte Russen-Vollblüter aus dem Quartier des Champion-Trainers in Urdorf ausgezogen. 

Wie sieht der Rennsport in Russland wirklich aus? Wie gut sind die Pferde? Wie ist die Qualität der Bahnen und wie sehen die Rennpreise aus? 

Antworten auf diese und noch viele andere Fragen liefert Herbert Wohlgensinger, der abtretende Schweizer Handicapper, ehemals auch in England erfolgreiche Rennreiter und künftig auch wieder vermehrt als Vermittler (Golan Knight und Debbys Boy hat z.B. er in die Schweiz gebracht) engagierte Vollblut-Enthusiast. Er war kürzlich in Moskau, um den Russen das Handicap-System näher zu bringen (wir hatten bereits darüber berichtet -> Link zum Artikel

Auf den folgenden Zeilen publizieren wir das Exklusiv-Interview mit Herbert Wohlgensinger.

 

 

Russlands Rennbahnen

 

Als erstes interessieren uns die Rennbahnen in Russland, wie sehen die aus? 

Die Bahn in Moskau ist 1800 Meter lang, mit tiefem Sand (zu tief!), links herum. Bis auf eine sind alles Sandbahnen in Russland, alle gehen links herum. Weil die Bahnen so tief und gefährlich sind, sind die Pferde im Ziel quasi "tot", brauchen mindestens 3 Wochen zur Erholung.

Die Moskauer Rennbahn gehört dem Staat. Mitten in der Stadt ist sie das teuerste Bauland der Welt. Man spricht von 6 Milliarden Dollars Wert. Hier hat es keine Leitungen in der Luft oder U-Bahn im Boden, deshalb könnte so tief und hoch gebaut werden, wie man möchte. Der auch in der SchweizOligarch Vekselberg hat das Land beinahe bekommen, nachdem nach allen Seiten „geschmiert“ worden war. Nach Protest wurde der Verkauf aber rückgängig gemacht. Da man nicht weiss, was mit der Bahn in Zukunft passiert, will niemand investieren. Der Bau einer neuen Rennbahn ausserhalb von Moskau ist in Diskussion. Ideal wäre eine Polytrack-Bahn, die nicht wie eine Sandbahn gefriert.

 

Wie sieht die Bahn denn aus und was ist mit der Wetterei?

Der Eingang zur Rennbahn und die Tribüne (aus dem Jahre 1834) sind monumental und imposant. Ganz innen ist eine Trab-Traningsbahn (allein in Moskau sind rund 1000 Traber im Training), in der Mitte eine Trabrennbahn und aussen die Galopp-Bahn. Es gibt maximal 12 Starter pro Rennen (die Startbox hat gar nicht mehr Plätze).

Es gibt keinen Totalisator, der Staat darf gar keine Wetten annehmen. Darum gibt es nur „wilde Wetten“ und nichts daraus fliesst zurück in den Sport. Nun versucht man ausserhalb der Bahn, Wetten anzunehmen, das ist erlaubt.

 

Die Pferde

Was haben sie für einen Eindruck von den Pferden, wie ist das Niveau? 

Fast alle Pferde sind amerikanisch gezogen. Etwa drei oder vier Pferde haben ca. 85 bis 90 kg GAG – der Rest schlechter, etwa wie bei uns.
Durch die klassemässig grossen Unterschiede zwischen den Pferden sind die Rennen nicht spannend und teilweise sogar uninteressant. Die Abstände im Ziel lesen sich meist etwa so: 10 Längen – 7 Längen – 3 Längen – 10 Längen – 4 Längen – 10 Längen. Das verdeutlicht, dass Handicaprennen bitter nötig sind.

 

Wo kaufen die Russen denn ihre Pferde? Stammen viele aus eigener Zucht? 

Es gibt in Russland rund 600 Zuchtstuten und 100 Deckhengste. Züchterprämien gibt es bis jetzt keine.

Besitzer kauften bis anhin jährlich 30 bis 40 Jährlinge in Keenland. Meist sehr gut gezogen, aber mit Stellungsfehlern zu rund 30-40'000 USD (plus Transportkosten von ca 12'000 USD.  Dieses Jahr wurden 135 Jährlinge gekauft, der teuerste kostete 80'000 USD. Bei der Einfuhr sind zudem 18.5 % Mehrwertsteuer fällig. Diese wird umgangen, indem die Pferde in die USA an eine Firma verkauft und dann billig (so ca. 2000 bis 4000 USD) zurückgekauft werden. So fällt die Mehrwehrtsteuer nicht mehr ins Gewicht.
Man spricht in Russland nur von Dollars, flucht über die Amerikaner, äfft aber deren Lebensstil nach…

 

Wer organisiert den Rennsport in Russland und wie sieht es mit Dopingbekämpfung aus? 

Die Besitzer organisieren den Rennsport selbst. Dopingproben werden bei allen Siegern durchgeführt – aber noch nie wurde einer positiv getestet… Die Proben sind nur Show. Alle sind gedopt, in irgend einer Weise.
Da Pferde mit Stellungsfehlern gekauft werden, die sonst bis zu zehn Mal mehr kosten würden, gibt es viele Ausfälle.

 

Gibt es Bestrebungen den russischen Rennsport zu professionalisieren? 

Im russischen Rennsport gibt es grundsätzlich zwei Lager: Die einen möchten alles so lassen, wie es ist. Die anderen möchten einen sauberen, gut organisierten Rennsport. Derzeit hat jede Rennnbahn ihre eigenen Gesetze und Reglemente…

 

Die Rennen

Wie sind die Rennen dotiert?

Das russische Derby ist gut dotiert (93'000 EUR), in den meisten anderen Rennen gibt es jedoch lediglich 1000 EUR für den Sieger. Zum Vergleich: Das Training kostet in Moskau 1000 EUR, ausserhalb 500 EUR pro Monat.

Die Finanzierung der Rennpreise erfolgt zu je einem Drittel durch den Staat, durch Sponsoren und durch die Besitzer selbst. Es werden Gruppe-Rennen (I, II und III) ausgeschrieben, auch Listed – welche allerdings international natürlich nicht anerkannt sind. Ein Gruppe-I-Rennen entspricht bei uns in etwa Listed-Klasse. Ende Saison gibt es einen russischen Breeders’ Cup in Moskau. Für die Rennen kommen die Trainer für ca dreieinhalb Monate mit ihren Pferden nach Moskau. Im Frühling, Spätherbst und Winter gibt es keine Rennen in Moskau, weil es dann zu kalt und die Sandbahn gefroren ist. 

Interessant ist, dass von den 88 Rennen, welche in Moskau abgehalten werden, deren 37 für 2j. Pferde sind. Es sind aus diesem Grunde etliche 2j. Handicaprennen vorgesehen.

 

Grosses Interesse am Handicap-System

Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und den Russen aus? 

Nun, ich habe mal versprochen, die in Moskau gelaufenen Pferde gratis zu handicappieren (einzustufen). Es hat einige Vergleichswerte von Pferden, die in GB, D. und den USA gelaufen sind.

Die Russen haben mein Software-Programm bestellt, es wird jetzt noch auf Englisch übersetzt. Am ersten Tag habe ich erstmal allen erklärt, was Handicap ist und wie es funktioniert. Am zweiten Tag machten wir eine Demonstration am Computer mit Auswertung des Derbys sowie zwei anderen Rennen. Im Mai 2009 gehe ich an den ersten Renntag, an welchem die Rennen „verarbeitet“ werden und werden den Handicapper einschulen…


Da sind wir natürlich jetzt schon gespannt, wie die Geschichte weiter geht! 

 

Moskau

 

Zum Schluss wäre es spannend, wenn Sie uns noch ein paar Eindrücke aus Moskau als Stadt vermitteln könnten. 

 

Oh, da gibt es so viel!

Eine neue 2-Zimmer-Wohnung kostet rund 1.2 Millionen USD. Moskau beherbergt 40 Dollar-Milliardäre und rund 11'000 Millionäre. Das Büro des Jockey Club ist in einem Palast eingemietet. Es gibt einen Privatclub mit Reithalle 100m mal 25 Meter, erbaut 1960 für die Olympiade zur Vorbereitung für die Dressurpferde. Die Besiterzin dieses Clubs ist eine Frau Dr. Vita Kozlava – so schön wie die Miss Schweiz, wenn nicht schöner… Sie ist die Frau des Sicherheits- und Polizeiministers von Russland. Kozlava ist eine Top-Dressurreiterin, ihr Pferd ist die Nr. 7 der Welt. Sie ist auch Mitglied des Jockey Club und so mächtig, dass jedes Geschäft nur mit Ihrer Unterschrift über die Bühne geht.

Was mir aufgefallen ist: Die Russen haben alle "Telefonitis". Jeder hat bei einer Sitzung zwei bis drei Handys auf dem Tisch (natürlich die neusten Modelle). Ständig klingelt eines, alle rufen auch aus der Sitzung jemanden an. Andere gehen während einer Sitzung raus und sagen, sie kämen in 5 Minuten wieder. Dann bleiben sie 20 Minuten weg. Der, bei dem die Handys am meisten klingen, ist der Grösste…

 

Vielen Dank für das Interview! 



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